Beim Aufräumen ihres Kellers fallen im Jahr 2021 Johanna Geschwinde aus Braunschweig einige Hefte in die Hände, die eine handschriftliche Sammlung von Erlebnissen während der Zeit der Kinderlandverschickung nach Thalitter (Hessen) enthalten. Sie gehörten ihrer Großmutter, Frieda Gries, und ihrer Mutter, Antje Gries, und wurden bisher nicht beachtet. Sie enthalten Hinweise auf die sog. Kinderlandverschickung, die in diesem Fall von 1942 bis 1943 stattfand.
Frieda Gries war seit 1928 an der „Volksschule“ Bremen im Fedelhörn als Lehrerin tätig. In dieser Funktion war sie dann auch an der Kinderlandverschickung (KLV) in Thalitter beteiligt. Ihre Tochter Antje war damals 8 bzw. 9 Jahre alt und Schülerin der gleichen Schule. Insofern durfte sie ihre Mutter ebenfalls während der Fahrt nach Thalitter begleiten. Auch der 9 Jahre ältere Sohn aus erster Ehe reiste mit. Er besuchte die Alte Landesschule in Korbach, die 5 km entfernt mit dem Fahrrad zu erreichen war. An dieser Schule legte er dann das sog. „Kriegsabitur“ ab.
Die Schülerinnen einer Klasse der Volksschule am Fedelhören wurden Ende 1942 wegen der bedrohlichen alliierten Luftangriffe auf Bremen für mehrere Monate nach Thalitter ausquartiert. Die Fahrt dorthin fand mit einem Zug statt. Nach ihrer Ankunft zogen sie in das KLV-Lager Haus Blöcher, in dem auch Mädchen aus anderen Städten, wie z. B. Wilhelmshaven, untergebracht waren. Frieda Gries übernimmt im Haus die Lagerleitung.
Während im Heft von Frieda Gries die Aufsätze ihrer Schülerinnen enthalten sind, verfasst Antje Gries ihre beiden Hefte selbst. In den insgesamt drei Lagerbüchern wird vom Alltag im Hessischen berichtet, aber auch von den Ausflügen, die sie, neben dem Unterricht, unternehmen. Dazu wurden in beide Hefte viele Fotos eingeklebt. Offensichtlich gab es dort sowohl die Möglichkeit zu fotografieren als auch die Bilder entwickeln zu lassen. Vor Ort erhielten die Kinder „Pflegeeltern“ zugewiesen, mit denen sie regelmäßig Kontakt hatten. Aus der bremischen Heimat bekommen sie, so geht aus den Berichten hervor, Geschenkpakete zugeschickt, so z. B. zu Weihnachten 1943.
Auffällig ist jedoch, dass diese Berichte mehr oder weniger ausschließlich Positives ausdrücken. Die Angst vor dem Krieg, vor den Fliegerangriffen oder die in Bremen zurückgelassenen Geschwister, Väter oder Ehemänner finden keine Erwähnung. Würde nicht auch der Besuch einer BDM-Gruppe (Bund Deutscher Mädel) erwähnt, hätten die Berichte der beiden auch aus den 50er- oder 60er-Jahren stammen können. Sogar die Erntehilfe, die die Mädchen bei einem Bauern leisten, wird eher als Abenteuer geschildert. Die Hilfe bei der Heu- und Kartoffelernte fand jedoch aus der Not heraus statt, denn die Männer, die das sonst gemacht haben, standen an der Front. Soldaten tauchen nur an einer Stelle auf: Wenn die Mädchen ins Schwimmbad wollen, dieses aber noch von einer Gruppe Soldaten belegt ist. Und an einer anderen Stelle heißt es, „Im Zug sahen wir Obdachlose von Kassel, die alles verloren haben.“
Ab 1. Januar 1947 war Frieda Gries bis zu ihrer Pensionierung Schulleiterin in Bremen Huchting. Gemeinsam mit ihrem Mann Georg engagiert sie sich anschließend jahrelang für Menschen mit Beeinträchtigung, insbesondere für die vom Martinshof. Der wurde von ihrem Mann am Buntentorsteinweg gegründet, weshalb nach ihm in der Vahr eine Straße benannt wurde.
Johanna Geschwinde hat sämtliche Hefte freundlicherweise dem Bremer Schulmuseum Auf der Hohwisch zur Verfügung gestellt. Sie können im Unterricht eingesetzt werden.
Veröffentlicht am 2. Januar 2022 und aktualisiert am 3. Januar 2022