Die Gestapo konnte ohne Gerichtsbeschluss Hinrichtungen vornehmen; sie mussten diese lediglich durch Schnellbrief an das RSHA als Vorschläge zur „Sonderbehandlung“, mit kurzer Sachdarstellung einreichen. Meistens entschied Himmler persönlich über den Fall. Der Vollzug musste dann per Fernschreiben gemeldet werden. Darin sollten Personenstandsdaten des Delinquenten, Datum und Ort der Exekution, etc., aber auch einen Vermerk, wie die Exekution bei der deutschen Bevölkerung aufgenommen worden ist. Bei allen Verbrechen von „Ostarbeitern“ wie Mord, Totschlag, Raub und Geschlechtsverkehr mit deutschen Frauen, war ab Februar 1942 eine „Sonderbehandlung“ vorgesehen. Das galt auch für sowjetische Kriegsgefangene, die sofort an die Gestapo zu überstellen waren, wenn ihnen Geschlechtsverkehr mit deutschen Frauen nachgewiesen werden konnte.
Im Januar 1943 ordnete Himmler an, dass der Leiter der Staatspolizei(leit)stelle oder ein von ihm beauftragter SS-Führer seiner Dienststelle und ein Amts- oder SS-Arzt jede Exekution beizuwohnen hätten. Bei der Auswahl des Exekutionsplatzes (von außen nicht einsehbare Orte wie z. B. Steinbrüche oder Waldstücke) sollten nach Möglichkeit Vorschläge des zuständigen Bürgermeisters oder Ortsgruppenleiters berücksichtigt werden. Und weiter:
„Bei der Exekution von polnischen Zivilarbeitern und Arbeitskräften aus dem altsowjetischen Gebiet (Ostarbeiter) sind – sofern nicht im Einzelfall eine andere Anordnung ergeht oder sonstige wichtige Gründe vorliegen (z. B. dringende Erntearbeiten) – die in der Umgebung eingesetzten Arbeitskräfte der gleichen Volksgruppe nach erfolgter Hinrichtung am Galgen vorbeizuführen und auf die Folgen eines Verstoßes gegen die gegebenen Vorschriften hinzuweisen.
b) Die Erhängung ist durch Schutzhäftlinge, bei fremdvölkischen Arbeitern durch Angehörige möglichst der gleichen Volksgruppe zu vollziehen. Die Schutzhäftlinge erhalten für den Vollzug 3 Zigaretten. […]
g) Nach der Exekution stellt der Amts- oder SS-Arzt eine Totenbescheinigung aus. Das zuständige Standesamt ist schriftlich über den Tod zu unterrichten. Jedoch ist die Todesursache nicht einzutragen.“ …
Die letzten öffentlichen Hinrichtungen dieser Art fanden beim Schützenplatz im „Daverdener Holz“, zehn Kilometer von Verden entfernt, statt. Nach den Erinnerungen von Pastor Willenbrock erregte und bewegte die Exekution von drei jungen Polen die deutschen Einwohner sehr stark. Der 21-jährige Stanisław („Stacho“) Rutkowski war im Mai 1940 von Stedorf nach Verden zur Gärtnerei Ruloff gekommen. Am 2. Januar 1943 verließ er seine Arbeitsstelle, um am Wochenende seine Bekannte in Stendal zu besuchen. Er wurde gefasst und am 25. Februar 1943 in das Landgerichtsgefängnis Verden eingeliefert, und kam dann in AEL Bremen-Farge. Nach vier Wochen war er wieder zurück bei seinem alten Arbeitgeber, musste aber drei Monate später zum Gaswerk Verden wechseln.
Der drei Jahre ältere Feliks Puchalski arbeitete seit Juli 1942 beim Schuhmachermeister Kothe in Verden. Im Dezember 1943 wurde wegen Diebstahls verhaftet und nach zwei Tagen Schutzhaft wieder entlassen.
Marian Królikowski war 20 Jahre alt und arbeitete bei der Norddeutschen Zementfabrik in Verden. Alle drei wohnten in der Baracke an der Hafenstraße. Zu dritt stiegen sie im Januar 1944 nachts in den Keller eines Bauernhauses ein, um Lebensmittel zu stehlen. Sie wurden am 26. Januar 1944 gefasst. Auf dem Transport zum Gerichtsgefängnis Verden konnte Puchalski fliehen, wurde aber im Kreis Hoya aufgegriffen. Die Presse berichtete einen Tag nach der Festnahme über den Diebstahl. Einer der festgenommenen Polen zeigte zwei Gendarmen das Versteck mit dem Beutegut: drei Zentner Fleischwaren, Gummistiefel und ein Mantel, z. T. aus früheren nächtlichen Einbrüchen. Puchalski soll 16 Einbrüche begangen und „Stacho“ Rutkowski „in einem sehr schlechten Rufe gestanden“ haben.
Alle drei Häftlinge wurden am 7. Februar 1944 in das AEL Bremen-Farge überführt und nach sechs Wochen Haft am 23. März 1944 zur „Sonderbehandlung“ an den Tatort ihres letzten Einbruchs gebracht. Zwei Tage zuvor hatte der Verdener Landrat die Bürgermeister der Gemeinden im Umkreis von Daverden informiert:
„Am 23.3.1944, um 8,30 Uhr, werden in Daverden (Schützenplatz) 3 polnische Zivilarbeiter durch den Strang hingerichtet. An dieser Hinrichtung nehmen sämtliche polnische Zivilarbeiter der Gemeinde Achim teil. Ich ersuche Sie, dafür zu sorgen, dass die polnischen Zivilarbeiter Ihrer Gemeinde um die unten genannte Zeit sich an dem angegebenen Sammelpunkt einfinden. Sammelpunkt: ´Gieschens Hotel´, um 5.30 Uhr.“
Folgende Information wurde z. B. per Handzettel (in Achim) öffentlich verteilt:
„Sämtliche polnische Zivilarbeiter müssen zu einem Marsch nach einem Sammelplatz in Daverden morgen, Donnerstag, d. 23. ds. Mts. Um 5,30 Uhr pünktlich sich vor Gieschens Hotel einzufinden [sic!]. Sie werden ersucht, unbedingt dafür zu sorgen, dass Ihr polnischer Zivilarbeiter pünktlich um 5,30 Uhr vor Gieschens Hotel anwesend ist. Nichtbeachtung ziehen für Sie erhebliche Schwierigkeiten nach sich.“
Unter dem Datum vom 23. März 1944 ist im Sterbebuch des Standesamtes Daverden der Tod der drei Polen mit der Todesursache „Exekution“ und dem Zusatz „angezeigt durch den Landrat in Verden, 23.03.44“ eingetragen, sogar mit Uhrzeit: „8 Uhr 55 Minuten“. Und auf den drei Meldekarten ist lapidar vermerkt: „Verstorben am 23.3.1944 in Daverden, Krs. Verden.“
In den Spruchgerichtsverfahren gegen ehemalige Ortsgruppenleiter aus dem Landkreis Verden, den ehemaligen Kreisleiter Brändel und den ehemaligen Kriminalsekretär Seling wurde versucht, die Verstrickungen dieser Personen in Bezug auf die erfolgten Hinrichtungen aufzudecken. Brändel gab zu, an den drei Hinrichtungen teilgenommen zu haben, die von der Gestapo der Leitstelle Bremen durchgeführt worden. Seines Wissens hatte ein Verfahren vor einem ordentlichen Gericht oder Sondergericht nicht stattgefunden. In seiner Vernehmung gab er zu Protokoll, dass die „Sonderbehandlung“ durch ein Kommando der Stapo Bremen vorgenommen worden war. Als er am Hinrichtungsort angekommen war, sollen die Hinrichtungen bereits durchgeführt worden sein. Interessant ist, dass sich der Staatsanwalt in der Vernehmung nicht nach den Namen der beteiligten Bremer Gestapo-Beamten erkundigte. Diese Fragestellung blieb einer anderen Untersuchung vorbehalten, die von der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg im Jahre 1975 vorgenommen wurde. Auslöser waren Recherchen, die die polnische „Hauptkommission zur Untersuchung der Verbrechen gegen das polnische Volk“ durchführte. Die übersetzten Zeugenbefragungen wurden dann an die Zentrale Stelle nach Ludwigsburg geschickt.
Im Januar 1974 gab der Augenzeuge Marian Główczyński bei einer Befragung durch den Staatsanwalt in Wałcz zu Protokoll:
„Ich befand mich zusammen mit Stanis ł aw Rutkowski in der Ortschaft Werden-Arra zur Zwangsarbeit. Eine Zeitlang arbeiteten wir gemeinsam bei einem Gärtner mit Namen Rurow. Rutkowski wohnte in der Bremenstraße. Von der Ermordung Rutkowskis weiß ich aus eigener Beobachtung. Etwa im Herbst 1943 kam zu mir ein Gendarm und sagte, dass ich mich in der Ortschaft Landwerde, die ungefähr 7 km von Werden entfernt liegt, melden solle. Er sagte, dass eine Exekution von drei Polen stattfinde, darunter die von Rutkowski. Im Zusammenhang damit fuhr ich mit dem Fahrrad zu dieser Ortschaft. Als ich an Ort und Stelle ankam, bemerkte ich, dass der Galgen schon errichtet war und drei Männer auf Schemeln standen. Um ihre Hälse waren Schlingen gelegt und ihre Hände und Füße zusammengebunden. In der Mitte dieser drei stand S. Rutkowski. In der Nähe der Exekutionsstelle standen etwa 1.000 Personen. Unter den Deutschen befanden sich einige Personen in Zivilkleidung. Ein Mann dieser Personengruppe verlas das Urteil, zuerst in deutscher und später in polnischer Sprache. Aus dem Inhalt des Urteils ging hervor, dass Rutkowski und die zwei übrigen Männer wegen Diebstahls erhängt werden sollten. Wenn ich mich recht erinnere, war es wohl Fleisch. Der Diebstahl soll an der gleichen Stelle ausgeführt worden sein, an welcher die Exekution stattfand. Gleichzeitig sagte der Deutsche, dass ebenso mit jedem verfahren würde, der einem Deutschen etwas stehle. Nach Ausführung der Exekution mussten alle Anwesenden in zwei Reihen an den Erhängten vorbeigehen. Ich erinnere mich nicht, wer noch bei der Exekution zugegen war. Ich habe mir keinen angesehen, denn ich war von der Exekution sehr erschüttert. Die Exekution fand statt in einem Wald der Ortschaft Landwerde ungefähr 300 m von der Straße entfernt.“
Der Augenzeugenbericht von Stefan Waliszewski stammt von der Befragung durch einen Richter in Łódź. Er hatte Rutkowski von klein auf gekannt, kam wie dieser aus Krośniewice, Kreis Kutno. Im April 1940 war ein Sammeltransport aus dem Kreis Kutno in den Landkreis Verden gekommen. Waliszewski arbeitete in Dahlhausen, sechs Kilometer von Verden entfernt. Zufällig traf er seinen Freund im Sommer 1942 wieder, danach besuchten sie sich gegenseitig. Durch andere Polen erfuhr er 1943 von Rutkowskis Verhaftung. Als er sich auf Befehl des Bürgermeisters zu einem Wäldchen in der Nähe von Verden begeben sollte, wusste er nicht, aus welchem Grund. Mit dem Fahrrad seines Bauern und einem Passierschein fuhr er zu dem angegebenen Ort:
„Als ich auf einer Lichtung des Wäldchens ankam, bemerkte ich, dass dort viele Polen, Russen und uniformierte Hitleristen Aufstellung genommen hatten, und dass in der Nähe vier Lastkraftwagen und ein Gefängniswagen standen. Nach meiner Meinung waren dort ungefähr 100 Männer versammelt, die schon teilweise auseinandergingen. Ich fragte sie damals, was hier geschehen sei. Man antwortete mir, dass man auf der Lichtung im Walde drei Polen erhängt habe. […] Aus einer Entfernung von 50 m sah ich lediglich einen Galgen stehen, aber die Leichen der Verurteilten waren schon abgenommen. Angesichts dessen kehrte ich nach Hause zurück. […] Ich weiß auch nicht, was mit den Leichen der drei Ermordeten geschehen ist.“
Die Mutter von Rutkowski wurde in Krośniewice ebenfalls befragt. Sie hatte von der Ermordung ihres Sohnes durch Władysław Główczyński erfahren, der mit ihm im Arbeitslager war. Außerdem hatte sie aus dem Lager eine Karte in deutscher Sprache erhalten, dass ihr Sohn hingerichtet worden wäre. Zum Zeitpunkt der Befragung besaß sie nur noch ein Foto von ihm, das in Verden aufgenommen worden war. Główczyński hatte Rutkowski von dessen Geburt an gekannt. Nachdem er im März 1941 von Verden zurück nach Krośniewice geflohen war, hatte er später die Nachricht von Rutkowskis Hinrichtung erhalten.
Der Staatsanwalt bei der Zentralen Stelle in Ludwigsburg ermittelte als Verantwortliche für die Tötung der drei Polen den Leiter der Stapo Bremen, den Leiter der Abteilung 2 E (Exekutive) und den Sachbearbeiter im Referat 2 F (Fremdarbeiter). Der Vorgang wurde am 26. November 1975 an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht in Verden geschickt. Daraufhin eröffnete diese ein Ermittlungsverfahren gegen Angehörige der Stapostelle Bremen wegen Verdacht auf Mord. Es wurde festgestellt, dass zur Tatzeit der Leiter der Staatspolizeistelle Bremen Dr. Erwin Dörnte war, der durch Beschluss des Amtsgerichts Bremen 1950 für tot erklärt worden war. Leiter der Abteilung 2 E war Kriminalobersekretär Herrlein, der nach dem Krieg tödlich verunglückt war.
Noch zu diesem Zeitpunkt lebende ehemalige Angehörige dieser Stapostelle Bremen, wie z. B. Herbert Arnoldi (Leiter der Abwehr) und Menne Schulte (Leiter des Nachrichtenreferats) konnten keine Angaben über die drei Hinrichtungen machen. In Bezug auf die Aussage des Zeugen Główczyński, nach dessen Angaben ein Urteil vor den Hinrichtungen verlesen wurde, hatte der Verdener Oberstaatsanwalt Zweifel, ob es sich um eine rechtswidrige Tötung gehandelt hatte. Erhebliche Zweifel bestanden für ihn, ob die unmittelbar Beteiligten rechtswidrig gehandelt hätten.
Das Ermittlungsverfahren wurde schließlich eingestellt und die Zentrale Stelle in Ludwigsburg darüber in Kenntnis gesetzt mit der Bitte, die polnischen Kommission vom Ausgang des Verfahrens zu unterrichten. Die Leichen wurden, wie im Bagiński, zunächst in das Krematorium nach Bremen überführt und dann die Urnen auf dem Riensberger Friedhof beigesetzt. 1957 erfolgte die Umbettung auf den Osterholzer Friedhof. Die damals vom RSHA erwünschte und auch erreichte Abschreckung wirkt bei den Augenzeugen noch bis heute im wahrsten Sinne der Wortbedeutung als Schock und seelische Erschütterung weiter.
Auszug aus der Dissertation „Zwangsarbeit ausländischer Arbeitskräfte im Regionalbereich Verden/Aller (1939-1945)“ von Joachim Wook. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Veröffentlicht am 10. April 2015 und aktualisiert am 15. Februar 2024