Auf dem Friedhof am Buntentorsteinweg befindet sich das Grab 401. Angelegt wurde es 1929, da der Sinto Johann Dickel am 15. Januar gestorben war. Er erhielt ein Begräbnis zweiter Klasse, für das die Familie 48 Reichsmark bezahlen musste, in dieser Zeit ein recht großer Betrag. Die Kutsche mit dem Leichnam wurde von 4 Pferden gezogen. Johann Dickel muss ein wichtiger Mann gewesen sein. Dies kommt auch in seiner ehrenvollen Beerdigung zum Ausdruck.
Er war verheiratet mit Maria Dickel, geb. Schneider. Zusammen hatte das Ehepaar 6 Kinder, eines davon war Petrus (geb. 12. November 1895).
Dieser Sohn, Petrus Dickel, heiratete Maria Albertina Dickel, geb. Neigert, und lebte gemeinsam mit seiner Ehefrau ab 1919 in Wohnwagen an unterschiedlichen Adressen in Bremen. Ihr Wagen stand, gemeinsam mit vielen anderen, u. a. am Torfkanal an der Eickedorffer Straße in Findorff und zuletzt wohl an der Stoteler Straße in Gröpelingen. Das Ehepaar bekam 5 Kinder, davon ein Mädchen Hitge, sowie die vier Söhne Julius, Egon Matthäus, Fred Johannes und Ludwig Willy. Petrus verdiente ursprünglich seinen Lebensunterhalt als Musiker. Als ihm auf Grund des so genannten Festsetzungserlasses ab dem 17. Oktober 1939 untersagt war, als Musiker zu arbeiten, fand er als Arbeiter eine Beschäftigung bei den Atlas Werken und der Straßenbaufirma Bothe. Sein ältester Sohn, Julius Dickel, wäre auch gerne Musiker geworden, nahm sogar Geigenunterricht bei seinem Onkel Josef Weiß. Auch ihm wurde dieser Beruf untersagt, also arbeitete er nach der Schulausbildung u. a. als Austräger beim „Lesezirkel Roland“.
Auf Grund der späteren Wiedergutmachungsakten von Julius Dickel sowie seine Anzeige gegen Wilhelm Mündtrath, Leiter der Bremer „Dienststelle für Zigeunerfragen“ ist über die Verfolgung der Familie vieles bekannt geworden. Er war der einzige aus der Familie von Petrus Dickel, der die Verfolgung durch die Nationalsozialisten überlebte. Im März 1943 wurde die Familie auf Grund des so genannten Auschwitz-Erlasses vom 16. Dezember 1942 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, genauer dort in das „Zigeunerfamilienlager“, deportiert.
Julius Dickel selbst schilderte die Ereignisse: „Am 8.3.1943 erschienen gegen 8 Uhr 30 an unserem Wohnwagen [in der Stoteler Straße in Gröpelingen] zwei Schutzpolizeibeamte und erklärten uns, dass wir festgenommen seien. Wir mussten den Wohnwagen verlassen und durften nur die notwendigsten Gegenstände mitnehmen. Die beiden Polizeibeamten brachten uns zur Polizeiwache in Gröpelingen, wo wir einige Zeit warten mussten, bis die anderen Zigeuner, die ebenfalls im Bezirk Gröpelingen wohnhaft waren, festgenommen und zur Wache gebracht wurden. Mein Vater wurde an seiner Arbeitsstelle [zu diesem Zeitpunkt arbeitete er bei der AG Weser, d. A.] festgenommen und traf dann auch an der Wache in Gröpelingen ein. […] Nachdem alle Zigeuner an der Wache eingetroffen waren, wurden wir mit einem Sonderwagen der Straßenbahn zum Schlachthof in Findorff gefahren und dort in einer leerstehenden Halle untergebracht. […] Auf dem Schlachthof blieben wir m. E. nach ca. 2 oder 3 Tage und Nächte. […] Eines Morgens wurden alle Zigeuner zum Hauptbahnhof geführt“ und in Personenwagen der 3. Klasse „getrieben“. „In einem gesonderten Wagen war die Bewachungsmannschaft, die aus Beamten der Schutzpolizei bestand und dem Transportleiter, bei dem es sich um Mündtrath handelte, untergebracht.“ *
Petrus Dickel, seine Frau Maria Albertine sowie Tochter Hitge sowie die beiden Söhne Egon Matthäus und Ludwig Willy werden in Auschwitz ermordet. Julius, der zum Zeitpunkt seiner Einlieferung 16 Jahre alt ist, überlebt lediglich, weil man ihn für arbeitsfähig hält. Man steckt ihn in verschiedene Arbeitskommandos, u. a. in den KZ‘s Buchenwald, Flossenburg, Bergen-Belsen und Theresienstadt. Dort wird er mit seinen Mithäftlingen von der Roten Armee befreit. Der jüdische Häftling Carl Katz, ehemaliger Büroleiter der Jüdischen Gemeinde in Bremen, besorgt dem schwer misshandelten und kranken Julius Dickel einen Transportplatz in Richtung Heimat.
Wieder zurück in Bremen erfährt er vom Tod seiner Eltern und Geschwister. Er weiß nicht, wohin er noch gehen soll. Schließlich sucht er das Familiengrab im Buntentor auf. Vom Verwalter erfährt er die Adresse seines Onkels, einem Bruder seines Vaters Petrus, in den Niederlanden. Von dort betreibt er in den Jahren danach seine Wiedergutmachung, für sich und für seine ermordete Familie. Außerdem stellt er im Mai 1961 Anzeige gegen den Kripobeamten Wilhelm Mündtrath wegen Verdachts der Beihilfe zum Mord. Im September 1962 wird das Ermittlungsverfahren eingestellt. Man habe, so der Staatsanwalt, nicht beweisen können, „dass er beim Transport von Zigeunermischlingen aus Bremen am 8. März 1943 ins Konzentrationslager Auschwitz gewusst hat, dass die dorthin verlegten Menschen einmal getötet werden würden.“
Der Historiker Hans Hesse beschreibt die Relevanz der Anzeige von Julius Dickel wie folgt: „Trotz dieses gescheiterten Versuchs einer justiziellen Aufarbeitung der NS-Verbrechen an den Sinti und Roma in Bremen ist zu konstatieren, dass es – wie schon in der Entnazifizierung — die überlebenden Opfer waren, die die Verfahren gegen die aus ihrer Sicht verantwortlichen Kriminalpolizeibeamten initiierten. Ihre unermüdlichen Versuche, so etwas wie Gerechtigkeit zu erlangen, schufen quasi als Nebeneffekt überhaupt erst die Quellen, die es späteren Historikern ermöglichten, die NS-Verbrechen aufzuarbeiten. Dadurch, dass die Täter in den Verhandlungen gezwungen wurden, auszusagen, dadurch, dass die überlebenden Opfer als Zeugen des Geschehens ihre Erlebnisse im wahrsten Sinne des Wortes zu Protokoll gaben, dadurch, dass darüber hinaus Ermittlungen angestellt wurden, konnten die tatsächlichen oder behaupteten Lücken in der amtlichen Quellenüberlieferung geschlossen werden. Darin liegt der historische Wert dieser Aktivitäten trotz des ohne Zweifel unbefriedigenden Ausgangs dieser Bemühungen, denn keiner der beteiligten Beamten wurde verurteilt oder in der Entnazifizierung über den Status eines „Mitläufers“ hinausgehend eingestuft.“
Julius Dickel starb am 20. Januar 1993 in Offenburg einsam und alleine, vermutlich an einer Herzattacke. Die Beerdigungskosten übernahm das Bremer Landesamt für Wiedergutmachung, da sein Tod eine Folge des verfolgungsbedingten Leidens war. Seine Grabstelle dort wurde inzwischen eingeebnet.
Am 7. Mai 2022 wurde auf Wunsch von Linda Dickel das Grab der Familie Johann Dickel um einen Gedenkstein erweitert. Er trägt die Inschrift „In Erinnerung an Julius Dickel * 7.4.1926 † 20.1.1993 – Angehörige der Familie Dickel wurden in der NS-Zeit verfolgt, mindestens 16 ermordet“. Dadurch wurde die Familie symbolisch zusammengeführt.
Der Gedenkstein wurde ausgeführt von der Steinbildhauerin Katja Stelljes, finanziert durch die Bremer Senatskanzlei, die Bremer Sparkasse und private Spender. Der Schmetterling geht zurück auf die Abbildung eines Schmetterlings, den Linda Dickel, die Tochter von Julius Dickel, bei ihrem ersten Besuch auf dem Grab niederlegte.
Literatur: „Wir wurden mit einem Sonderwagen der Straßenbahn zum Schlachthof gefahren“ – Die NS-Verfolgung der Familie Petrus Matthäus Dickel, in: Hesse, Hans, „Ich bitte, die verantwortlichen Personen für ihre unmenschlichen barbarischen Taten zur Rechenschaft zu ziehen“ – Gedenkbuch zur NS-Verfolgung der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland, Teil 2“, Bremen 2022, S. 57–65.
„Die Deportation der Sinti und Roma am 8. März 1943 aus Nordwestdeutschland“, in: Hesse, Hans, „Ich bitte, die verantwortlichen Personen für ihre unmenschlichen barbarischen Taten zur Rechenschaft zu ziehen“ – Gedenkbuch zur NS-Verfolgung der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland, Teil 2“, Bremen 2022, S. 57-65.
Ja, lieber Herr Benninghaus, sind Sie denn bei Ihren Forschungen auf Zusammenhänge zwischen den Bremer, den Wuppertaler (die wären auch noch zu nennen und den Wittgensteiner Angehörigen der Namensgruppe gestoßen? Das ließe interessante Ergebnisse erwarten.
Mir ist die Familie Dickel aus der Wittgennsteiner Gegend bekannt, die dort offenbar eigentlich Gadsche (Nicht-Zigeuner) waren und verschiedentlich mit dortigen Sinti (z.B. Lagerin, Saßmannshausen) geheiratet haben.