Die Thyssens – eine Pastorenfamilie im Nationalsozialismus

Reinhold Thysen
Wasserhorst Kirche (hon-frei BEK)
Wasserhorst Pfarrhaus 2001
Evangelische Kirche, Wasserhorst-Bremen

Begeisterung, Widerstand oder auch allmählich wachsende Erkenntnis – der Nationalsozialis­mus löste in Vereinen, Nachbarschaften, Freundeskreisen und Verwandtschaften völlig unterschiedliche Reaktionen und Diskussionen aus. Ein Beispiel für eine solche kleine Welt einer Familie ist die Bremer Pastoren-Familie Thyssen. Paul Thyssen (1865-1935), von 1904 bis 1931 Pfarrer in St. Stephani, war ein überzeugter Nationalsozialist. Seine fünf Söhne reagierten gegensätzlich: Sohn Paul II. war überzeugt wie sein Vater. Johannes aber, der älteste, „war von Anfang an dagegen“, erinnert sich heute Hanna Thyssen senior, Tochter des jüngsten Bruders Reinhold. Dieser wiederum gehörte zu jenen Menschen, die den Nationalsozialismus anfangs als neuen Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg begrüßten. Sie traten der Partei bei, übernahmen Ämter und erkannten bald oder später, auf was sie sich eingelassen hatten. Viele zogen sich zurück, manche leisteten Widerstand und wurden verhaftet, drangsaliert, getötet.
Aus dem Abstand von mehr als 80 Jahren nachzuvollziehen, was genau bei den Einzelnen das Umdenken bewirkte, ist schwierig. Nicht immer war es ein einschneidendes Erlebnis, vielfach auch eine Summe von Erkenntnissen. Für Reinhold Thyssen (1911-1944) wurde der Hinweis eines befreundeten Arztes, man möge doch mal den britischen Sender BBC hören, zum Auslöser erster Zweifel. Daran erinnert sich seine Tochter Hanna.

Während sich in der Gemeinde St. Stephani um seinen Kollegen Gustav Greiffenhagen und eine Gruppe beherzter Lehrerinnen Widerstand formierte, hielt der Vater Paul Thyssen I. als NS-überzeugter Deutscher Christ engagierte Vorträge über die braune Weltanschauung. So sprach er zum Beispiel  auf der Großkundgebung im Versammlungslokal „Casino“ am 25. April 1933 von „wunderbarer Errettung aus Marxismus und Bolschewismus“. Und sein Hemelinger Kollege Ernst Röbbelen berichtet in seinen Lebenserinnerungen über einen Vortrag Thyssens in Hemelingen: „Nach seiner Meinung würde es auch im Himmel noch die verschiedenen Volksarten geben.“

Ab 1932 arbeitete Paul Thyssen I. in der evangelischen Gemeinde Wasserhorst. Er starb dort 1935. Die Gemeinde wünschte sich seinen Sohn Reinhold als Nachfolger. Der hatte inzwischen die erste theologische Prüfung mit „fast sehr gut“ bestanden. Er war bereits 1930 in die NSDAP eingetreten, war Gau-Redner für den Gau Weser-Ems, seit 1931 Mitglied der SA. Als Vikar war er ein Jahr lang Religionslehrer an der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt in Potsdam gewesen, hatte danach das zweite theologische Examen bestanden und in Schleswig-Holstein als junger Pfarrer gearbeitet. Sein Amtsbruder in Grambke, Johannes Heider (1907-1986), empfahl ihn in der Zeitschrift „Der Nachbar“ vom 14. Juli 1935: „Mein Schulkamerad und jetziger Amtsbruder steht ganz zum Evangelium Jesu Christi, fügt nichts hinzu und streicht nichts ab, wie manche Volksgenossen es heute wollen. Und was alle Gemeindeglieder unserer Gemeinden wissen: Seit Jahren hat er sich leidenschaftlich und tatkräftig für den Aufbruch der Nation eingesetzt. Als Obersturmbannführer in der SA tat er in letzter Zeit treu seinen Dienst…“. Am 7. Juli 1935 wurde Reinhold Thyssen als neuer Pastor in Wasserhorst feierlich in sein Amt eingeführt. Drei Monate später heiratete er Liselotte Hoops, die Tochter seines Seehauser Amtsbruders Heinrich Hoops.
Über ihren Großvater Reinhold sagt die Enkelin, Hanna Thyssen junior, dass er ein guter Redner und Prediger sowie ein Mensch gewesen sein müsse, der Andere überzeugen und für sich einnehmen konnte. Gleich nach seinem Amtsantritt 1935 wurde der junge Wasserhorster Pastor Landesjugendpfarrer der Bremischen Evangelischen Kirche. In den zwei Jahren, in denen er dieses Amt ausübte, muss er sich immer mehr von der NS-Ideologie entfernt haben und in eine Krise geraten sein. Bereits 1934 war mit dem Reichskirchengesetz und der Eingliederung aller Jugendverbände in die Hitlerjugend (HJ) der evangelischen Jugend die Arbeit erschwert worden. Erlaubt war nur noch Bibelarbeit. Fahrten, Lagerfeuer, Abzeichen und dergleichen waren verboten und blieben der HJ vorbehalten. Der Autor Arno Klönne (1931-2015) beschreibt diese Auseinandersetzungen ausführlich in seinem Buch „Jugend im Dritten Reich“.
Dabei hatte Reinhold Thyssen die Bremer HJ selbst mit gegründet. Doch die Hoffnung auf eine Zusammenarbeit zwischen kirchlichen Jugendverbänden und HJ trog, von partnerschaftlicher Koexistenz konnte bald keine Rede mehr sein. Die Realität des nationalsozialistischen Alltags passte nicht zu den öffentlichen Reden von der christlichen Volksgemeinschaft.
Dazu kam sicherlich auch das größenwahnsinnige Verhalten des Bremer „Landsbischofs“ Heinz Weidemann (1895-1976) mit seiner Eitelkeit, mit seinen selbstherrlichen Eingriffen in die Arbeit der Gemeinden, mit der Abzweigung kirchlicher Gelder für spezielle Projekte einer so genannten „Kommenden Kirche“ – was unter anderem eine Kürzung der Gelder für die Jugendarbeit bedeutete. Der Rückzug Reinhold Thyssens aus parteipolitischen Aktivitäten und aus der Bewegung der Deutschen Christen wurde bemerkt. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1937 wurde er als Landesjugendpfarrer abgesetzt und mit einem Schreiben Weidemanns vom 27. September 1937 darüber informiert, nachzulesen in der Personalakte: „Sie haben sich in letzter Zeit immer mehr aus der Gemeinschaft der Amtsbrüder entfernt, deren Jugendarbeit Sie in Hauptsache zu führen hatten. Sie haben in fortschreitendem Maße den Willen zur Zusammenarbeit mit der Kirchenleitung vermissen lassen, die Sie in Ihr Amt berufen hat…“
Ein Ausweg bot sich für Reinhold Thyssen über das Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK): Man beabsichtige, so hieß es in einem Schreiben der DEK an Weidemann, Thyssen in den kirchlichen Auslandsdienst nach Spanien zu schicken. Woraufhin der „Bischof“ zurück schrieb: „Mit Rücksicht auf die Gemeinde Wasserhorst darf ich bitten, die Übernahme in den kirchlichen Außendienst möglichst endgültig zu vollziehen.“ Im Mai und Juni 1939 unternahm der junge Pastor Thyssen als Vorbereitung für diesen Auftrag bereits eine Reise durch Portugal und Spanien, erhielt jedoch am 26. August, fünf Tage vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, seine Einberufung für den 29. August. Er wurde mehrfach befördert bis zum Oberleutnant, erhielt etliche Auszeichnungen, wurde zweimal verwundet.

Nachdem sich 1941 auch in Bremen ein so genannter Berneuchener Kreis gebildet hatte, der eine Erneuerung der evangelischen Kirche von innen heraus betreiben wollte, schloss er sich dieser Bewegung an, obwohl er als Frontsoldat wenig Gelegenheit gehabt haben dürfte, an den Aktivitäten teilzunehmen. Der Ursprung dieses Kreises war 1922 ein Treffen von Vertretern kirchlicher Jugendverbände gewesen, die danach von 1923 bis 1927 auf dem Rittergut Berneuchen in der Neumark zusammen kamen.
Reinhold Thyssen fiel am 15. August 1944 in der Nähe von Suwalki an der ostpreußischen Grenze. Seine Frau Liselotte hat einige Notizen hinterlassen, darunter die Bemerkung: „Er erzählte auch von dem Zwiespalt, in dem er stand: selbst den Sieg nicht wünschen und in seinen Soldaten die Hoffnung zu erhalten, dass ihr Einsatz nicht umsonst sei, weil sie es sonst da vorne überhaupt nicht aushalten könnten.“

Veröffentlicht am und aktualisiert am 29. November 2022

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