Die „Wiedergutmachung“ an Julius Dickel–„…eine angstneurotische Depression als Verfolgungsschaden…“

Julius Dickel (links, Quelle: Privatbesitz)
Gedenkstein für Julius Dickel (Foto: John Gerardu)
Erinnerungsplatte für Julius Dickel
8. März 1943
Große Johannisstraße 78, Bremen-Neustadt

Julius Dickel wurde am 7. April 1926 in Osnabrück geboren. Seine Eltern waren Petrus Matthäus und Maria Albertine, geb. Neigert, Dickel. Er war das zweitälteste Kind. Julius hatte noch vier Geschwister: Hitge, Egon Matthäus, Fred Johannes und Ludwig Willy. Sowohl die Eltern als auch die Geschwister wurden in dem „Zigeunerfamilienlager“ in Auschwitz-Birkenau ermordet.

Julius besuchte die Schule in der Nordstraße und später die Volksschule am Neustadtswall (in der heutigen Schulstraße. Nach 1937 wurde sie Bulthauptschule am Neustadtswall genannt). Ursprünglich hatte er vor, Musiker zu werden. „Doch dies war mir nicht möglich, da ich auf Grund meiner Abstammung von Zigeunern keine Lehre beginnen durfte.“ Stattdessen arbeitete er nach seiner Schulentlassung als Bote bei der Firma „Lesezirkel Roland“.

Im März 1943 wurde er gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern nach Auschwitz deportiert. Ihm wurde bei der Ankunft die Nummer „Z 2090“ in den Unterarm eintätowiert. Am 17. April 1944 erfolgte der Transport in das KZ Buchenwald. Es folgte das KZ Flossenbürg. Der Leidensweg endete kurz vor Ende des Krieges wenige Kilometer vor Theresienstadt.

Am 6. August kam der mittlerweile 19jährige zurück nach Bremen, blieb aber nur für kurze Zeit in der Stadt und lebte fortan die meiste Zeit in den Niederlanden. Ende Juli 1952 beantragte er in Bremen seine ‚Wiedergutmachung‘.

Julius Dickel gab an, dass er nach dem Krieg sein Geld mit Scherenschleifen verdient habe. Er sei viel allein gewesen. Ein Cousin habe sich seiner angenommen. In Amsterdam arbeitete er in einer Plätterei (Bügeln von Damenmantelkonfektion), in Den Haag als Verkäufer und Einkassierer. Julius litt in den folgenden Jahrzehnten unter häufigen epileptischen Anfällen. Mitunter habe er sich bei diesen Anfällen in die Zungenspitze gebissen. Außerdem litt er unter starken Kopfschmerzen und einer ständigen Unruhe. Er habe auch oft Angstzustände, ohne dafür einen Grund angeben zu können. Bei Kopfschmerzen nehme er bis zu sechs Tabletten Optalidon, ein Medikament zur Behandlung von leichten bis mittelschweren Schmerzen. Der Cousin berichtete, dass der mittlerweile 46jährige Julius außerordentlich müde sei, z.B. sein Auto nicht wiederfinde und manchmal nicht ansprechbar sei.

In medizinischen Gutachten wurde einerseits eine angstneurotische Depression als Verfolgungsschaden anerkannt, die zu einer verfolgungsbedingten Erwerbsminderung von 30% geführt habe, andererseits sind sich die Gutachter bezüglich der Anfälle nicht einig, ob sie Ursache in einer Kopftyphuserkrankung haben könnten. An Kopftyphus war Julius Dickel unmittelbar nach seiner ‚Befreiung‘ erkrankt. Die Ärzte wollten einen Zusammenhang mit der Inhaftierung in den Konzentrationslagern deshalb nicht anerkennen. Diagnostiziert wurde aber auch eine Herzklappenerkrankung. Insgesamt erhielt er deshalb eine Rente für Schaden an Körper und Gesundheit.

Anfang 1993 beauftragte das Landesamt für Wiedergutmachung Bremen Dr. Schmacke vom Hauptgesundheitsamt mit einer erneuten Begutachtung. Auf Grund des Todes kam es jedoch nicht mehr dazu.

Julius Dickel starb am 20. Januar 1993 in Offenburg (Baden-Württemberg) in der Kniebisstr. 1a. Einer Nachbarin war tags darauf aufgefallen, dass Julius Dickel auf ihr Klopfen an der Tür nicht reagierte. Daraufhin wurde die Tür durch den Hausmeister geöffnet. Der gerufene Hausarzt vermutete eine Herzattacke als Todesursache. Die Beerdigungskosten übernahm das Bremer Landesamt für Wiedergutmachung, weil der Tod eine Folge des verfolgungsbedingten Leidens war.

Am 7. Mai 1922 wurde auf dem Friedhof Buntentor ein Gedenkstein für ihn und die Familie Dickel am Familiengrab der Dickels eingeweiht. Die Grabstelle in Offenburg war eingeebnet worden.

Autor: Dr. Hans Hesse

Literatur:
Hesse, Hans, „Wir wurden mit einem Sonderwagen der Straßenbahn zum Schlachthof gefahren“ – Die NS-Verfolgung der Familie Petrus Matthäus Dickel, in: Hesse, Hans, „Ich bitte, die verantwortlichen Personen für ihre unmenschlichen barbarischen Taten zur Rechenschaft zu ziehen“ – Die Deportation der Sinti und Roma am 8. März 1943 aus Nordwestdeutschland, Bremen 2022, S. 57–65.
Hesse, Hans, „Friedhof Buntentor – Denkmäler der Zukunft“, Bremen 2022.

Quellen:
Staatsarchiv Bremen 4, 54 – E 2623 Dickel, Julius, geb. 7.4.1926 in Osnabrück (Wiedergutmachungsakte).

Veröffentlicht am und aktualisiert am 24. April 2023

Kommentieren Sie den Beitrag

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*

Zeitauswahl
  • 1933
  • 35
  • 37
  • 39
  • 41
  • 43
  • 1945
Themen
  • Arbeitslager
  • Ereignis
  • Jugend
  • Nazi-Organisation
  • Person
  • Verfolgung
  • Widerstand
  • Alle Kategorien aktivieren
Stadtteil