Widerständig war Gertrud Staewen (1894 – 1987) ihr ganzes Leben lang: zuerst gegen den autoritären Vater, dann gegen den Hochmut bürgerlicher Kreise gegenüber dem Proletariat, später gegen den totalitären Anspruch des Nationalsozialismus und nach 1945 gegen die Verteufelung von Strafgefangenen. Nach kurzer Ehe und Scheidung kam sie mit zwei Kindern lebenslang gerade so über die Runden. Beständig war in ihrem Leben nur die Jahrzehnte währende Freundschaft mit dem Theologen Karl Barth (1886 – 1968) und seiner Lebensgefährtin Charlotte von Kirschbaum (1899 – 1975) sowie mit dem Berlin-Dahlemer Pastor Helmut Gollwitzer (1908 – 1993).
Gertrud Staewen entstammte der Bremer Familie Ordemann. Ihr Vater Johann Anton Ordemann (1867 – 1926) war Kaufmann, ihre Mutter Hanna Rohr (1827 – 1910) Tochter eines Schweizer Pfarrers. Ihre jüngere Schwester Hilda (1897 – 1979) heiratete 1926 den Juristen und späteren dritten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Gustav Heinemann (1899 – 1976), Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1949 bis 1955.
Gertrud Ordemann wurde in der Kirche Unser Lieben Frauen durch den damaligen Pastor Reinhard Groscurth konfirmiert. Er erkannte ihr pädagogisches Talent und förderte ihre Hinwendung zu jungen Menschen. Bereits als Jugendliche half sie im Kindergarten und im Kindergottesdienst der Gemeinde. Während ihre anpassungsfähigere Schwester Hilda Abitur machen und studieren durfte, musste die unangepasste Gertrud auf Anordnung ihres strengen Vaters mit dem Realschulabschluss die Schule verlassen und ein Jahr lang in einem schweizerischen Pensionat für höhere Töchter Französisch lernen. Nach ihrer Rückkehr nach Bremen arbeitete sie in einem evangelischen Kinderhort. Aufgrund der Fürsprache von Pastor Reinhard Groscurth (1866 – 1948) konnte sie in Berlin eine sozialpädagogische Ausbildung beginnen, von der sie begeistert war und die sie 1920 als Jugendleiterin abschloss. Damit waren Weichen gestellt: Berlin wurde ihre neue Heimat.
Ein Praktikum in einem Kindertagesheim in der Reichshauptstadt brachte sie in Berührung mit proletarischen Familien. Spartakus-Aufstand, Weimarer Republik – 1926 trat sie in die SPD ein -, auf der Suche nach neuen Ideen und Lebensformen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg lernte sie die religiösen Sozialisten kennen. Nach dem Krieg kehrte sie zunächst nach Bremen zurück und gründete mit einer Freundin ein sozialpädagogisches Seminar für die Ausbildung junger Frauen.
Nach der Scheidung von ihrem Mann Werner Staewen (1892 – 1960) versuchte sie, sich und ihre beiden Kinder in Berlin mit schriftstellerischer Arbeit über Wasser zu halten. Ihr Thema war die Lebenssituation der proletarischen Jugend. Ihre beiden Bücher zu diesem Themenkreis, 1933 und 1939 erschienen, wurden sofort nach Erscheinen verboten. Sie hatte das wahre Gesicht des Nationalsozialismus erkannt, las schon früh Hitlers „Mein Kampf“ und war besonders um ihre jüdischen Freunde besorgt. Ab Ende 1935 arbeitete sie in der Versandabteilung des Burckhardthauses in Berlin-Dahlem, wurde dort Mitglied der evangelischen Gemeinde mit dem Pastor Helmut Gollwitzer und schloss sich der Bekennenden Kirche an.
Sie beteiligte sich an der wachsenden Arbeit vor allem der Frauen der Gemeinde für NS-Verfolgte, zunehmend für Juden. Sie übernahm die Seelsorge für die Sternträger im Einzugsbereich der Dahlemer Gemeinde, besuchte jene, von denen sie erfahren hatte, dass ihre Deportation kurz bevor stand, half mit Geld und Kleidung. Es wurden Päckchen in die Konzentrationslager geschickt, von manchen Inhaftierten kamen noch Antwortbriefe. Unterstützung musste illegal organisiert werden. Das stürzte die gesetzestreue Helferin aus Bremen in Gewissenskonflikte. Mitunter fühlte sie sich entkräftet und hilflos.
Gertrud Staewens umfangreiche Korrespondenz aus der NS-Zeit – vor allem an die Schweizer Freunde um Karl Barth – enthält Verschlüsselungen und Abkürzungen, da sie damit rechnete, dass die Post geöffnet wurde. Sie verstärkte neben allem Anderen ihre Arbeit für die Gemeinde, hielt Bibelstunden, machte Hausbesuche. Während etliche Gleichgesinnte aus der Gemeinde verhaftet wurden, blieb sie unbehelligt. Im Sommer 1943 verließ sie Berlin und reiste nach Weimar zu ihrer Tochter Renate.
Ab 1946 arbeitete sie erneut in Berlin an der neu gegründeten kirchlichen Zeitschrift Unterwegs mit. 1948 holte sie der Tegeler Gefängnisseelsorger Harald Poelchau als kirchliche Fürsorgerin in die Männerhaftanstalt Berlin-Tegel. Dort wirkte sie bis zu ihrem Ruhestand 1962, bekannt und beliebt als Engel der Gefangenen. Sie gehörte zu den ersten Mitgliedern des Kuratoriums der 1949 gegründeten Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin. 1958 nahm der Berliner Senat sie in seine Liste der Unbesungenen Helden auf. Gertrud Staewen liegt auf dem St. Annen-Friedhof in Dahlem neben der 68er-Ikone Rudi Dutschke begraben.
Quellen:
Margot Käßmann (Hrsg.) „Gott will Taten sehen – Christlicher Widerstand gegen Hitler“, Verlag C. H. Beck München 2013;
Marlies Flesch-Thebesius „Zu den Außenseitern gestellt – Die Geschichte der Gertrud Staewen 1894 – 1987“, Wichern-Verlag Berlin 2004;
Gertrud Staewen-Ordemann „Menschen der Unordnung“, Band 3 der „Studien zur Religionssoziologie“, Furche-Verlag – heute Luther Verlag – Berlin 1933
Veröffentlicht am 20. Februar 2019 und aktualisiert am 31. Mai 2021