Das Ehepaar Ferdinand und Margarethe Stephan, geb. Schmidt, hatte sieben Kinder. Von der Familie überlebten lediglich drei Kinder die NS-Verfolgung. Einer von ihnen war R. Stephan. Mit 11 Jahren wurde R. Stephan im März 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. 1944 kam er in das KZ Buchenwald. Es folgte das KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen (Thüringen) am Rande des Harz. Hier mussten die Häftlinge unterirdisch in einer Rüstungsfabrik arbeiten. In den Stollen im Berg wurde u.a. die V2-Rakete gebaut.
R. überlebte und kam – mittlerweile 13 Jahr alt – nach Bremen zurück. Die Traumatisierungen, die das Kind erfahren haben muss, lassen sich nur erahnen (vgl. die Erinnerungen von Rudolf Schmidt).
Nach 1945 beantragte er ‚Wiedergutmachung‘. Das Bremer Landesamt für Wiedergutmachung behauptete 1954 jedoch zum Antrag von R. Stephan, dass „er mit seinen Eltern als Asozialer in Haft genommen wurde.“ Eine rassische Verfolgung sei nicht zu erkennen. Und weiter: „Als der Antragsteller 1945 entlassen wurde, war er 14 Jahre alt. Es wurde ihm wiederholt die Möglichkeit gegeben, etwas zu erlernen und ein ordentliches Leben zu führen. Er ist fortgelaufen […]. Wenn er eine Ausbildung nicht erreichte, ist es eigenes Verschulden. Dass asoziale Gründe für die Inhaftierung maßbeglich waren, hat sein Lebenswandel nach 1945 bewiesen.“ Aus einem weiteren Schreiben der Behörde von 1955 wird deutlich, dass allein die so genannte erkennungsdienstliche Behandlung im Oktober 1939 des damals 8jährigen Jungen als Beleg dafür angesehen wurde, dass der Junge nicht rassisch verfolgt worden sei. Außerdem wird auf den Vater, der Soldat im I. Weltkrieg war, hingewiesen, der am 19. September 1934 – vermutlich für ein halbes Jahr – in das Arbeitslager Teufelsmoor eingewiesen wurde, weil er mehrfach Arbeit abgelehnt habe, „obwohl er dienstfähig war“. In der Wiedergutmachungsakte heißt es weiter: „Aus all diesen Gründen erhellt, dass der Antragsteller ein Verhalten gezeigt hat, welches besondere polizeiliche Maßnahmen zur Pflicht machte.“
Dass insbesondere die „erkennungsdienstliche Behandlung“ bereits eine NS-Verfolgungsmaßnahme war, wurde von den Beamten der Wiedergutmachungsbehörde nicht anerkannt, was offensichtlich auf die unzureichende Kenntnis der historischen Zusammenhänge zurückzuführen ist. Es gibt ein Beispiel für die „erkennungsdienstlichen Behandlungen“ seitens der Kriminalpolizei. Es handelt sich um die Kinder der Familie Friedrich und Marie, geb. Repp, Bamberger. Die „erkennungsdienstlichen Behandlungen gingen auf einen Erlass Heinrich Himmlers zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 8. Dezember 1938 zurück. Im Fall der Kinder der Familie Bamberger sind die Fotos erhalten. Auf der Rückseite der Fotos ist zu lesen: „Verbrecher-Kategorie Zigeuner“. Von einer kriminalpolizeilichen Maßnahme, wie sie der Vorgang vor der Hand vielleicht suggeriert, wenn eine ganze Familie und minderjährige Kinder unter dem Stichwort „Zigeuner“ zu Verbrechern erklärt werden, kann nicht die Rede sein.
Dr. Hans Hesse
Literatur:
Zu den KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora vgl. die Erinnerungen des ersten Vorsitzenden des Bremer Sinti-Vereins Ewald Hanstein, Meine hundert Leben, aufgezeichnet von Ralf Lorenzen, Bremen 2005, S. 62–77.
Quellen: Wiedergutmachungsakten StA Bremen 4, 54 – E 9526, E 9527, E 4743, E 11637, E 11606, E 11607, E 11608.
Veröffentlicht am 28. April 2023