Wenn alljährlich – und 2019 anlässlich des 75. Jahrestages – der Attentäter vom 20. Juli 1944 gedacht wird, dann muss in der Reihe der militärischen Verschwörer gegen Adolf Hitler auch ein Bremer genannt werden: Helmuth Groscurth (1898-1943). Lange vor dem Anschlag in der Wolfsschanze gehörte er zu einer Gruppe, die schon zwischen 1938 und 1940 entschlossen war, gegen den „Führer“ zu putschen. Ziel des Netzwerks war es, Hitler gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen – wobei Einige darunter auch entschlossen waren, bei der unausweichlichen Schießerei mit Hitlers Wachmannschaft den Diktator schnell und gezielt „versehentlich“ zu töten.
Als Oberstleutnant der Abwehr in der Abteilung II zur besonderen Verwendung hatte Groscurth enge Beziehungen zu Admiral Wilhelm Canaris (1887-1945), dem Chef der Abwehr, und zu dessen Ergänzungsoffizier Hans Oster (1887-1945). So hatte er Zugang zu geheimen Informationen, so zum Beispiel über Hitlers Pläne für einen Feldzug gegen Russland. Diesen Krieg zu verhindern war – nach der Annexion der Sudeten 1938, nach dem Überfall auf Polen 1939 und dem Westfeldzug gegen Frankreich 1940 – aus Sicht der oppositionellen Militärs dringend geboten. Sie wussten, dass ein Krieg gegen Russland nicht zu gewinnen war, ein sich daraus entwickelnder Weltkrieg schon gar nicht. Versuche, Hitler das klar zu machen, scheiterten, Denkschriften verpufften.
Im November 1940 wurde er zum Generalstab der 295. Infanteriedivision versetzt und nahm ab 1941 am Russlandfeldzug teil. Mitte August 1941 wurde er in Belaja Zerkow, einer Kleinstadt nahe Kiew, Zeuge einer Mordaktion eines Sonderkommandos der SS an den jüdischen Einwohnern. Die Erwachsenen waren erschossen, rund 90 Kinder in Schmutz und ohne jegliche Versorgung in einem Haus eingesperrt worden. Soldaten machten zwei Kriegspfarrer darauf aufmerksam, die dafür sorgten, dass Groscurth informiert wurde. Er ging zu dem Haus, fand bestätigt, was die Pfarrer berichtet hatten und war entsetzt. Auch die Kinder sollten erschossen werden. Groscurth versuchte zu taktieren und die Kinder zu retten – vergeblich. Über dieses Ereignis hat er einen ausführlichen Bericht hinterlassen. Der Bremer Filmemacher Karl Fruchtmann (1915-2003) hat darüber 1995 für Radio Bremen einen Film mit dem Titel „Die Grube“ gemacht.
Helmuth Groscurth wurde am 16. Dezember 1898 in Lüdenscheid geboren. Sein Vater Reinhard (1866 – 1949) war dort evangelischer Pastor und Militärseelsorger. 1902 zog die Familie nach Bremen, wo Reinhard Groscurth Pastor der Gemeinde „Unser Lieben Frauen“ und Standortpfarrer wurde. Sein Sohn Helmuth verbrachte somit seine Jugend in Bremen. 1916 zog er noch als Oberprimaner in den Ersten Weltkrieg, wurde schwer verwundet und holte 1917 das Abitur nach. Im Oktober 1919 wurde er in die Reichswehr übernommen, aus der er 1920 ausschied, um in Heidelberg, Halle und Hamburg drei Semester Landwirtschaft, Rechts- und Staatswissenschaften zu studieren. Er übernahm 1923 die Verwaltung des Gutes Rethwischhof bei Oldesloe in Holstein, das seinem späteren Schwiegervater gehörte. Er heiratete 1925 dessen Tochter Charlotte Schmidt-Kufeke, mit der er zwei Töchter und einen Sohn hatte. Der Sohn hat sämtliche Dokumente seines Vaters dem Militärarchiv in Freiburg übergeben. Er ist inzwischen verstorben.
1934 kehrte Groscurth dem Landleben den Rücken und trat wieder in die Reichswehr ein. Geprägt durch ein christlich-konservatives Elternhaus, sah er bereits vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, wohin die nationalsozialistische Führung steuerte. Hitlers Rede im Berliner Sportpalast im September 1938 bezeichnet er in seinen Tagebuchaufzeichnungen als grauenvolles und unwürdiges Gebrüll. So übernahm er 1939 eine aktive Rolle als Verbindungsmann bei ersten Plänen, gegen Hitler zu putschen. Er unterstützte die national-konservative Opposition um Oster und schätzte besonders den General Ludwig Beck (1880- 1944), der bereits 1938 von seinem Posten als Chef des Generalstabs des Heeres zurückgetreten war und sich nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 durch Selbsttötung der Verhaftung entzog. Oster wurde am 8. April 1945 gemeinsam mit dem bekanntesten Theologen der Bekennenden Kirche, Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), im KZ Flossenbürg hingerichtet.
Die Gräueltaten der SS gegen die Zivilbevölkerung in Polen ab 1939 trieben Groscurth endgültig in die Opposition. Er warnte in Frankreich, drängte seine gleich gesinnten Vorgesetzten zum Handeln. Seine Briefe an seinen Bruder Reinhard, die privaten Tagebuchaufzeichnungen und Denkschriften, an denen er beteiligt war – alles zusammen zeichnet das Bild eines Menschen, der zwar Soldat war und national-konservativ dachte, bekannt war mit Mitgliedern der Freicorps-Organisation Consul, dessen humanistisch-christliche Grundeinstellung ihn aber mit wachsender Entschiedenheit zum Gegner des Nationalsozialismus machte.
Auch das Vorgehen des Regimes gegen die Bekennende Kirche (BK) empörte den Pastorensohn. Man geniert sich vor diesen Leuten schrieb er im Januar 1940 in Bezug auf die BK in sein Tagebuch. Von Kollegen und Vorgesetzten wurde er als Vertrauen erweckend, zielstrebig, solide und eher reserviert beschrieben. Man attestierte ihm einen trockenen Humor und absolute Wahrhaftigkeit.
Seine Einberufung an die Front wurde vom in die Putschpläne eingeweihten General Franz Halder (1884-1972) mit Groscurths Drängen, endlich gegen Hitler zu handeln, begründet. Er sah in dessen Offenheit und Unbedingtheit eine Gefahr für alle, die an der Verschwörung beteiligt waren: Hochanständig, unerschrocken, deshalb unvorsichtig, darum später Versetzung an die Front. In Stalingrad geriet Helmuth Groscurth in sowjetische Gefangenschaft, wo er am 7. April 1943 an Gelbfieber starb.
Groscurths erhalten gebliebene Tagebücher und Briefe sind 1970 in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart, heute Random-Verlagsgruppe, unter dem Titel „Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938-1940“ erschienen. Aus ihnen gehen Einzelheiten über den Putschversuch in der Zeit zwischen 1938 bis 1940 gegen Adolf Hitler hervor. Sie geben aber ebenso Aufschluss über die Wertvorstellungen und die politische Einstellung des nationalkonservativen und zunehmend oppositionellen Offiziers. Die Papiere waren bis Kriegsende in einem privaten Garten in Bremen vergraben und wurden später von der Familie den Amerikanern übergeben.
Quellen: Helmut Krausnick, Harold C. Deutsch und Hildegard von Kotze „Tagebuch eines Abwehroffiziers 1938-1940“, Deutsche Verlags-Anstalt, 1970; Fabian von Schlabrendorff „Offiziere gegen Hitler“, Fischer Bücherei 1959; Hans Rothfels „Die deutsche Opposition gegen Hitler“, Fischer Bücherei, 1958; Gert Buchheit „Ludwig Beck – ein preußischer General“, List Verlag, 1964; Will Bertholt „Die 42 Attentate auf Adolf Hitler“, Edition Kramer Koblenz; Linda von Keyserlinck-Rehbein „Nur eine ‚ganz kleine Clique’? – Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk vom 20. Juli 1944“, Lukas Verlag Berlin, 2018.
Veröffentlicht am 28. Juli 2019 und aktualisiert am 22. Oktober 2019