Rudolf Schmidt – Ein Augenzeuge berichtet über das „Zigeunerfamilienlager“ in Auschwitz-Birkenau

Rudolf Schmidt (StAB_4.54-E-2627)
Rudolf Schmidt (StAB_4.54-E-2627)
Das Bild zeigt die Gedenktafel beim Kulturzentrum Schlachthof
Gedenktafel am Kulturzentrum Schlachthof
8. März 1943
Nienabersgang (nicht mehr existenter Gang zwischen Neustadtswall u. Große Johannisstraße) 2, Bremen-Neustadt

Drei Transporte mit Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland verließen ab dem 8. März 1943 Bremen, wo die Menschen zuvor auf dem Schlachthof festgehalten worden waren. Unter ihnen befand sich der Bremer Sinto Rudolf Schmidt, der nach 1945 in schockierender Offenheit und mit eindringlichen Worten in seinem ‚Wiedergutmachungsverfahren‘ seine Erlebnisse in Auschwitz-Birkenau schilderte.

In dem „Zigeunerfamilienlager“ wurde der junge Mann (geb. am 10. Oktober 1922) zusammen mit seiner Familie in eine der Baracken eingepfercht. Die ersten Wochen habe es kein Wasser gegeben, berichtete er. Sie hätten sich mit blauer Kaffee- bzw. Teebrühe waschen müssen. Sie seien alle am Arm tätowiert worden, kahlgeschoren, zu Nummern geworden. Sie hätten alte, stinkige Decken bekommen, später dann Strohsäcke. Die Klosettbaracke sei menschenunwürdig gewesen. Ein jüngeres Kind sei erschreckt in der tiefen Grube umgekommen; es sei eine teuflisch erdachte Erfindung gewesen. Täglich hätten sie stundenlang Zählappelle gehabt bei karger Brotration. Frauen und Kinder seien umgefallen, bei jedem Wetter liegengeblieben. Die Kinder seien besonders hilflos gewesen. Er erinnere sich an das Geschrei der gepeinigten Mütter, denen meist schöne Kinder unter den Händen weggestorben seien.

Der junge Sinto musste in der Krankenbaracke arbeiten. Die Erlebnisse dort waren für ihn ein traumatischer Schock: die Kranken hätten wie Tiere vegetieren müssen, alle seien nackt herumgelaufen, die Geschlechter durcheinander, abgemagert, die Kinder mit großen Augen vorm Verhungern. In dieser Baracke hätten etwa 5–400 erkrankte Menschen (mit Krätze, Wassersucht, Phlegmone), meist zum Skelett abgemagert, elendig existieren müssen. Nackt auf bzw. unter schmierigen Decken liegend, mit eitrigen Beulen, zur Unkenntlichkeit aufgeschwemmt; mit ihren hohlen Blicken, einst gesunde Menschen, die auf das erlösende Ende gewartet hätten. Läuse, Flöhe, Gestank, Chlorkalkgeruch. Es habe keine ärztliche Behandlung gegeben. Medikamente seien nicht dagewesen. Krankenpflege habe nicht existiert. Er habe allenfalls vom Kot reinigen können, mit Wasser Kranke erfrischt, Fieberirre aufs Lager zurückgebracht, zu beruhigen versucht, Verstorbene dann morgens aus den Boxen gezerrt und in den Leichenschuppen gebracht. Er habe gezittert vor Ekel und innerer Ergriffenheit. Er habe offene Augen gesehen, gebrochen in einem Skelett, dunkel und rehbraun. Die Gesichter seien z.T. verzerrt gewesen, der Mund z.T. wie zu einer letzten Anklage geöffnet – ein Lächeln, die Hände verkrampft, die Seelen schon in einer anderen Welt. Zweimal wöchentlich seien die Leichen mit einem LKW zu Verbrennungsöfen gebracht worden; sie hätten mitunter im Scheinwerferlicht aufladen müssen, 150 Menschen zu zweit, nackte Knochengestelle aufgeschichtet, mitunter auch Verwandte mit starren Augen gefunden. Danach habe er jeweils das Wimmern und Schreien der Kranken nicht mehr gehört, von Schauern, Furcht durchrüttelt.

Nach diesen Arbeitsschichten habe er dann in einer dunklen Ecke bis zum Morgen gehockt, sich nicht mehr ins Freie getraut, um die Natur zu sehen, stattdessen habe hinter elektrischem Zaun eine Waggonkette voller Menschen vor ihrem Tode gesehen. Die Flammen der Verbrennungsöfen hätten nicht ausgereicht, da seien die Leichen auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden. Angstschreie habe er jeden Tag gehört, während er zerschlagen und zitternd auf seiner Pritsche gehockt habe.

Durch Zufall habe er seine Mutter in traurigem Zustand in der Krankenbaracke wiedergefunden, mit Lumpen am Körper, sie habe ihn nicht erkannt. Er habe ihr unter Mithilfe einer Ärztin eine bessere Liegestatt verschafft, Wäsche und andere Decken; so habe er sie am Leben erhalten können, als er die Nachtwache im Block gewesen sei.

Sein ganzes Leben quälten ihn die Erinnerungen an seine Erlebnisse in Auschwitz-Birkenau. Nach dem Tod seiner Mutter unternahm er einen Suizidversuch. Über 20 Jahre kämpfte er um die Anerkennung seiner Verfolgungstraumata. Schlussendlich attestierte ihm das Bremer Landgericht „ein aus den Erlebnissen der Verfolgung entstandenen psychisch-reaktiven, weitgehend irreversiblen Persönlichkeitswandel, der sich in schweren Depressionen und Kontaktstörungen sowie neurovegetativer Labilität und organ-neurotischen Veränderungen äußert.“

In einem der nervenfachärztlichen Gutachten sagte er einmal: „Wenn er allerdings damals [in Auschwitz] geahnt hätte, wie schlecht er heute dran sei, wäre er lieber dageblieben. Er habe sein Leben Auschwitz opfern müssen.“

Rudolf Schmidt starb am 2. Februar 2009 in Bayern.

Autor: Dr. Hans Hesse

Online: Hesse, Hans, „Mein Leben habe ich Auschwitz opfern müssen“ (https://upgr.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de/uploads/Dateien/PB2022/WK20221217WES8print.pdf).

Quelle: Staatsarchiv Bremen 4, 54 – E 2627 Schmidt (Franz), Rudolf, geb. 10.10.1922 (so genannte Wiedergutmachungsakte).

Veröffentlicht am und aktualisiert am 12. Juni 2023

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