Zu den Auflagen, die den Sinti und Roma gemacht wurden, gehörte auch das Verbot mit „Ariern“ Umgang zu haben. Das Verfahren war nach Aussage des Kriminalsekretärs und Leiters der „Dienststelle für Zigeunerfragen“ Wilhelm Mündtrath folgendermaßen geregelt: „Aus dem Publikum oder auf dem Polizeiwege ging bei der Kripoleitstelle eine Meldung ein. Diese Meldung wurde sodann auf dem Dienstwege mir als Zigeunersachbearbeiter zugeschrieben. Ich stellte dann Ermittlungen an und berichtete entsprechend. Der Vorgang mit meinem Bericht wurde nach Abschluss auf dem Dienstweg an die Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens übersandt. Von dort aus wurde erst entschieden, wie in jedem Einzelfalle gegen den beschuldigten Zigeuner vorzugehen sei.“
In der Praxis hatten Mündtraths Berichte nicht selten den Tod der „Beschuldigten“ zur Folge. Rudolf Franz sagte in dem Ermittlungsverfahren gegen Mündtrath aus, dass einer seiner Brüder mit einer „arischen“ Frau ein Verhältnis hatte, aus diesem Grunde nach Dachau deportiert wurde und dort wahrscheinlich umgekommen ist, „wie uns Herr Mündtrath Anfang des Jahres 1943 mitteilte. Herr Mündtrath hat vor der Deportierung meines Bruders wiederholt bei uns in der Wohnung vorgesprochen und hatte mit dieser Verschickung gedroht, falls er den Verkehr mit dieser arischen Frau nicht sofort einstellte.“
Andere wiederum mussten unterschreiben, dass sie den Kontakt mit ihrer Verlobten abbrechen. Es genügte aber schon, dass ein Sinto, weil er ausgebombt war, in der Wohnung einer befreundeten „arischen“ Frau übernachtete, um ihn von Mündtrath verhaften zu lassen.
Diese „Meldungen aus dem Publikum“ waren nichts anderes als Denunziationen eifriger „Volksgenossen“, die für die Betroffenen mitunter den Tod bedeuten konnten. Ein Fall sei zu diesem Themenbereich näher geschildert. 1937 wurde die Ehe von Frau Auguste Otter, selber keine Sintezza, geschieden, weil sie den Sinto Willy Franz heiraten wollte. Diese Ehe kam nicht zustande. Als sie 1940 nach Bayern evakuiert wurde, kehrte ihr Verlobter 1941, weil er als „Zigeuner“ galt, mittlerweile aus der Wehrmacht entlassen, nach Bremen zurück. Wie aus der Abschrift aus seiner Polizeipersonenakte hervorgeht, wurde er am 19. Januar 1942 verhaftet, weil er unerlaubter Weise Bremen zweimal verlassen hatte. Er war am 25. und 28. Dezember 1941 über Weihnachten zu Besuch bei seinen Verwandten in Hannover. Im Februar 1942 wurde er, nach einer kurzen Internierung in dem KZ Sachsenhausen, in das KZ Niederhagen/Wewelsburg eingeliefert, wo er im Mai 1942 an einer eitrigen Zellgewebsentzündung im Unterschenkel starb.
Die Verlobte, die neben dem Kind von Willy Franz noch weitere vier Kinder zu versorgen hatte, wurde indessen für das „Mütterkreuz“ vorgeschlagen. Erkundigungen deswegen von Seiten der Fürsorge und des Jugendamtes stellten die „Rassenschande“ fest, woraufhin die Frau nicht nur nicht das Mutterkreuz verliehen bekam, sondern gleichzeitig wurde ihr die Kinderbeihilfe für alle Kinder gestrichen. „Etwa Mitte 1941 kamen Beamte zu mir ins Haus, weil ich 5 Kinder hatte und evtl. das sog. Mütterkreuz erhalten sollte. Sie haben sich bei dieser Gelegenheit nach verschiedenen Dingen erkundigt und haben sich anschließend an das Jugendamt und die Fürsorge gewandt. Als sich daraufhin herausstellte, dass das Kind Gustav einen nichtarischen Vater hatte, wurde mir sofort die Kinderbeihilfe für meine sämtlichen Kinder gestrichen. Ich weiß, dass man mich als asozial bezeichnete […].“
Auch Harry Winter wurde wegen einer Beziehung mit einer „Arierin“ in das Vernichtungslager Auschwitz eingewiesen. Als im März 1943 seine Freundin das knapp 2jährige Kleinkind bei seinen Eltern zurückließ, weil sie ihre Eltern im Harz besuchen wollte, wurde das Kleinkind zusammen mit seinen Großeltern am 8. März 1943 in das „Zigeunerfamilienlager“ in Auschwitz-Birkenau deportiert, wo alle drei ermordet wurden. Irene, so der Name des kleinen Kindes, starb am 4. Mai 1943, im Alter von 22 Monaten.
Die Mutter schilderte die Ereignisse, die sich nach ihrer Rückkehr abspielten:
„Etwa im April 43 kam ich nach Bremen zurück und suchte sofort meine Schwiegereltern auf. Hier stellte ich fest, dass meine Schwiegereltern und mein Kind verschwunden waren, der Wohnwagen war versiegelt. Nachbarn erzählten mir auf Befragen, dass meine Schwiegereltern und mein Kind […] nach Auschwitz transportiert seien.
In der Annahme, dass Mündtrath mit dem Transport etwas zu tun hatte, bin ich sofort zu ihm gegangen. Ich wusste von meinem Verlobten, dass Mündtrath ihm des Öfteren bedeutet hatte, nicht weiter mit einer Arierin zu verkehren, da das den Zigeunern und Mischlingen verboten sei. Als ich zu Mündtrath kam, fragte ich ihn sofort nach dem Verbleib meines Kindes und meiner Schwiegereltern. Er hat mich in ziemlich barschen Tone angefahren und gesagt: ‚Du hast ja allerhand Mut, hier herauszukommen. Du weißt doch, was los ist. Wir haben dich schon gesucht, du kannst froh sein, dass du nicht in Bremen warst, denn du solltest auch mit weg nach Auschwitz.‘
Mündtrath sagte mir ferner, ich könne froh sein, dass mein Kind wirklich gekommen wäre. In Bremen wäre es doch nicht geachtet worden, es hätte auch in Bremen die Schule nicht besuchen dürfen. Es wäre doch von aller Welt verstoßen worden, da ist ein Zigeunermischling sei, und Zigeuner und Mischlinge seien ein minderwertiges Volk, die machten doch bloß alle lange Finger. Mündtrath bedeutete mir, ich solle mir man einen Deutschen als Bräutigam suchen und mich nicht mehr mit Zigeunern einlassen. Ich habe Mündtrath auch gefragt, wie mein Kind untergebracht sei und ob ich dieses besuchen könne. Das letztere lehnte Mündtrath ab, er betonte aber, dass es meinem Kinde an nichts fehle.
Nach etwa einem Jahre hielt ich durch das Bremer Jugendamt Mitteilung, dass mein Kind in Auschwitz verstorben sei. Als Todesursache wurde Darmkatarrh angegeben. Auch meine Schwiegereltern sind von Auschwitz nicht zurückgekehrt.“
Dr. Hans Hesse
Literatur:
Die Familie Robert und Auguste Winter, in: Hesse, Hans, „Ich bitte, die verantwortlichen Personen für ihre unmenschlichen barbarischen Taten zur Rechenschaft zu ziehen“ – Die Deportation der Sinti und Roma am 8. März 1943 aus Nordwestdeutschland, Bremen 2022, S. 141–145.