Die NS-Verfolgung der Sintezza Mariechen Franz ist einer der am besten dokumentierten Fälle in Bremen.
Mariechen wurde am 21. September 1927 in Riepe (bei Aurich) geboren. Ihre Mutter, Maria Franz, ist bei der Geburt selber erst 18 Jahre alt. Die Mutter gab bei einer Vernehmung durch die Kölner Kriminalpolizei an, dass sie den genauen Tag der Geburt nicht angeben könne. Der Geburtsort habe „zwei Stunden Fußweg von Aurich“ gelegen. Sie sei kurz nach der Geburt in ein Krankenhaus in Aurich gekommen. Wer ihr Vater war, konnte sie nicht angeben. Sie habe ihn auf einer Kirmes in der Nähe kennengelernt und danach nie wieder gesehen. Ihren Eltern gegenüber habe sie Josef Jakob als Vater angegeben, ihren späteren Lebenspartner, mit dem sie zwei weitere Kinder hatte. Als Mariechen drei Monate ist, hält sich die Familie in Bremen auf. Eine Erkrankung des Säuglings macht einen Krankenhausaufenthalt nötig. Die Familie entschließt sich dennoch, weiterzuziehen. Die Gründe sind nicht bekannt, dürften aber mit finanziellen Notwendigkeiten zu tun gehabt haben. Ein Jahr später erfährt die Mutter von anderen Sinti, dass ihr Kind in Bremen verstorben sei. Erst 1937 habe ihr das Jugendamt in Krefeld mitgeteilt, dass ihr Kind lebe und bei einer Pflegefamilie in Klein-Mackenstedt (heute Heiligenrode, Landkreis Diepholz) wohne. Sie habe daraufhin versucht, ihr Kind zu sich zu holen, was die Pflegeeltern jedoch nicht wollten.
Mariechen wächst in diesem kleinen Ort auf. Sie geht zur Schule und möchte auch konfirmiert werden. Da sie aber Katholikin ist, wäre hierfür ein Übertritt zur evangelischen Kirche notwendig gewesen. Dieser wäre ihr auf Grund der Tatsache, dass sie eine Sintezza war, verwehrt worden. Aus diesem Grund organisiert ihre Pflegemutter eine Ersatz-Konfirmation. Als Mariechen Ostern 1942 aus der Schule entlassen wird, muss sie auch die Pflegefamilie verlassen. Mariechen ist zu diesem Zeitpunkt erst 14 Jahre alt. Ihre Pflegemutter findet für sie eine Stelle in einem Kindergarten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) in Bremen-Woltmershausen. Dort beginnt Mariechen im März/April 1942 ihre Arbeit und wohnt auch in dem Haus. Schon nach kurzer Zeit kommt es zu Konflikten mit der Leiterin des Kindergartens, der 30jährigen Diakonisse Thea Stoldt. In einem Schreiben an das Bremer Jugendamt weist diese darauf hin, dass Mariechen „nichtarisch (Zigeuner)“ sei und daher „für die NSV-Arbeit nicht in Frage“ käme. Außerdem habe sie versucht, mit Männern (einem Flakhelfer) Kontakt aufzunehmen. Ein unverhohlener Hinweis auf drohende „Rassenschande“. Sinti und Roma war es zu diesem Zeitpunkt bereits verboten, Sex mit so genannten „Ariern“ zu haben.
Das Jugendamt reagierte sofort. Es überwies Mariechen ins Marthasheim, eine Jugendfürsorgeeinrichtung für Mädchen in der Osterstraße in Bremen-Neustadt. Zur Arbeit ging Mariechen in die nahe gelegene Seifenfabrik Kroning. Als Mariechen auch hier angeblich versucht, Kontakte zu Männern aufzunehmen, wird sie in die Bremer Nervenklinik („Psychiatrische und Neurologische Klinik (Nervenklinik) der Städtischen Krankenanstalten in Bremen“, Osterholzer Landstr. 51) zwangseingewiesen. Die Begründung: „der Zigeunermischling Mariechen Franz [ist] in so hohem Maße triebhaft […], dass er seine Umgebung gefährdet.“
Zu diesem Zeitpunkt versuchte ihre Mutter erneut, ihre Tochter zu sich zu holen, aber das Jugendamt lehnte dies ab. Stattdessen wurde ein Erbgesundheitsgerichtsverfahren gegen Mariechen mit dem Ziel eingeleitet, sie zu sterilisieren. Laut des Amtsarztes im Hauptgesundheitsamt Dr. Rogal drohe „unerwünschter Nachwuchs“. Und er unterstrich, dass „[…] die Ausscheidung aus der deutschen Volksgemeinschaft auf die eine oder andere Weise [dringend erforderlich]“ sei. Außerdem legte der Amtsarzt fest, dass eine „Pflegerbestellung […] nicht erforderlich“ sei, „da die Erbkranke ihre Belange selbst wahrnahmen kann.“ Zu diesem Zeitpunkt war Mariechen 15 Jahre alt. Dennoch musste sie alleine ohne Unterstützung z.B. eines Rechtsanwalts oder sonstigen Beistands das Verfahren durchstehen. Auf diese Weise schutzlos gemacht wurde die Zwangssterilisation der Minderjährigen am 6. August 1943 beschlossen und am 4. November 1943 in der Bremer Frauenklinik durchgeführt.
Damit war die Leidensgeschichte der mittlerweile 16-jährigen jedoch nicht beendet. Am 1. März 1944 wurde Mariechen auf Veranlassung des Bremer Jugendamtes in das Bewahrungsheim Hamburg-Farmsen verlegt. Der Grund für diese überraschende Verlegung dürfte eine bevorstehende Deportation in das „Zigeunerfamilienlager“ Auschwitz-Birkenau gewesen sein, denn am 18. April 1944 verließ ein Deportationszug Hamburg.
Als Mariechen am 21. April 1944 das Lager erreichte, waren ihre Mutter und ihr Lebenspartner sowie ihr jüngster Bruder Willi bereits in Auschwitz ermordet worden: Ihre Mutter starb am 13. August 1943, ihre Brüder Willi am 6. September 1943 und Walter († 1943) und der Vater starben am 4. Februar 1944. Auch die mittlerweile in Hamburg, in der Olgastraße 4, wohnenden Großeltern von Mariechen, Johann und Grete, geb. Steinbach, Franz wurden in Auschwitz ermordet. Am 24. Mai 1944 wurde Mariechen in das Frauenkonzentrationslager (FKL) Ravensbrück überführt. Dort starb sie am 25. September 1944, angeblich an Lungentuberkulose.
Für ihre Eltern und ihren jüngsten Bruder Willi wurden im Juli 2007 STOLPERSTEINE in Köln, Großer Griechenmarkt 37, verlegt. Für Mariechen liegt seit September 2008 in der Osterstraße 20, Bremen-Neustadt, ein STOLPERSTEIN. Ihr Name wird des Weiteren auf dem Namensdenkmal Lohse-Park am ehemaligen Hannoverscher Bahnhof in Hamburg nachgetragen werden
Autor: Dr. Hans Hesse
Literatur:
Engelbracht, Gerda, „Der tödliche Schatten der Psychiatrie. Die Bremer Nervenklinik 1933–1945“, Bremen 1996, S. 50–54.
Dies., „Denn bin ich unter das Jugenamt gekommen.“ Bremer Jugendfürsorge und Heimerziehung 1933–1945, Bremen 2018, S. 43–47.
Dies., Maria Franz, in: Peter Christoffersen, Barbara Johr (Hg.), Stolpersteine in Bremen. Biografische Spurensuche. Neustadt, Bremen 2020, S. 91–94.
Hesse, Hans, „[…] die Ausscheidung aus der Volksgemeinschaft auf die eine oder andere Weise […]“ – Die Geschichte der Familie Maria Franz, in: Hesse, Hans, „Ich bitte, die verantwortlichen Personen für ihre unmenschlichen barbarischen Taten zur Rechenschaft zu ziehen“ – Die Deportation der Sinti und Roma am 8. März 1943 aus Nordwestdeutschland, Bremen 2022, S. 45–50.
Nitschke, Asmus, „Die ‚Erbpolizei‘ im Nationalsozialismus. Zur Alltagsgeschichte der Gesundheitsämter im Dritten Reich. Das Beispiel Bremen“, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 242–247.
Online: Engelbracht, Gerda, Marie Franz (http://www.stolpersteine-bremen.de/detail.php?id=353)
Quellen:
AKBO (Archiv Klinikum Bremen Ost) Nr. 524/6, Mariechen Franz.
Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, BR 2034.
Staatsarchiv Bremen 4, 130/2 – XIII Nr. 16/1943, Franz, Mariechen, geb. 21.9.1927.