Ma­rie­chen Franz – „[…] die Aus­schei­dung aus der Volks­ge­mein­schaft auf die eine oder an­de­re Wei­se […]“

Mariechen Franz (aus Privatbesitz)
Mariechen Franz_Blumenmädchen (Privatbesitz)
Mariechen Franz_Blumenmädchen (Privatbesitz)
Mariachen_Franz_Schulklasse_1938 (Privatbesitz)
Mariachen_Franz_Schulklasse_1938 (Privatbesitz)
25. Sep­tem­ber 1944
Wolt­mers­hau­ser­str. 257 , Bre­men-Wolt­mers­hau­sen

Die NS-Ver­fol­gung der Sin­tez­za Ma­rie­chen Franz ist ei­ner der am bes­ten do­ku­men­tier­ten Fäl­le in Bre­men.

Ma­rie­chen wur­de am 21. Sep­tem­ber 1927 in Rie­pe (bei Au­rich) ge­bo­ren. Ihre Mut­ter, Ma­ria Franz, ist bei der Ge­burt sel­ber erst 18 Jah­re alt. Die Mut­ter gab bei ei­ner Ver­neh­mung durch die Köl­ner Kri­mi­nal­po­li­zei an, dass sie den ge­nau­en Tag der Ge­burt nicht an­ge­ben kön­ne. Der Ge­burts­ort habe „zwei Stun­den Fuß­weg von Au­rich“ ge­le­gen. Sie sei kurz nach der Ge­burt in ein Kran­ken­haus in Au­rich ge­kom­men. Wer ihr Va­ter war, konn­te sie nicht an­ge­ben. Sie habe ihn auf ei­ner Kir­mes in der Nähe ken­nen­ge­lernt und da­nach nie wie­der ge­se­hen. Ih­ren El­tern ge­gen­über habe sie Jo­sef Ja­kob als Va­ter an­ge­ge­ben, ih­ren spä­te­ren Le­bens­part­ner, mit dem sie zwei wei­te­re Kin­der hat­te. Als Ma­rie­chen drei Mo­na­te ist, hält sich die Fa­mi­lie in Bre­men auf. Eine Er­kran­kung des Säug­lings macht ei­nen Kran­ken­haus­auf­ent­halt nö­tig. Die Fa­mi­lie ent­schließt sich den­noch, wei­ter­zu­zie­hen. Die Grün­de sind nicht be­kannt, dürf­ten aber mit fi­nan­zi­el­len Not­wen­dig­kei­ten zu tun ge­habt ha­ben. Ein Jahr spä­ter er­fährt die Mut­ter von an­de­ren Sin­ti, dass ihr Kind in Bre­men ver­stor­ben sei. Erst 1937 habe ihr das Ju­gend­amt in Kre­feld mit­ge­teilt, dass ihr Kind lebe und bei ei­ner Pfle­ge­fa­mi­lie in Klein-Ma­cken­stedt (heu­te Hei­li­gen­ro­de, Land­kreis Die­p­holz) woh­ne. Sie habe dar­auf­hin ver­sucht, ihr Kind zu sich zu ho­len, was die Pfle­ge­el­tern je­doch nicht woll­ten.

Ma­rie­chen wächst in die­sem klei­nen Ort auf. Sie geht zur Schu­le und möch­te auch kon­fir­miert wer­den. Da sie aber Ka­tho­li­kin ist, wäre hier­für ein Über­tritt zur evan­ge­li­schen Kir­che not­wen­dig ge­we­sen. Die­ser wäre ihr auf Grund der Tat­sa­che, dass sie eine Sin­tez­za war, ver­wehrt wor­den. Aus die­sem Grund or­ga­ni­siert ihre Pfle­ge­mut­ter eine Er­satz-Kon­fir­ma­ti­on. Als Ma­rie­chen Os­tern 1942 aus der Schu­le ent­las­sen wird, muss sie auch die Pfle­ge­fa­mi­lie ver­las­sen. Ma­rie­chen ist zu die­sem Zeit­punkt erst 14 Jah­re alt. Ihre Pfle­ge­mut­ter fin­det für sie eine Stel­le in ei­nem Kin­der­gar­ten der Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Volks­wohl­fahrt (NSV) in Bre­men-Wolt­mers­hau­sen. Dort be­ginnt Ma­rie­chen im März/​April 1942 ihre Ar­beit und wohnt auch in dem Haus. Schon nach kur­zer Zeit kommt es zu Kon­flik­ten mit der Lei­te­rin des Kin­der­gar­tens, der 30jäh­ri­gen Dia­ko­nis­se Thea Stoldt. In ei­nem Schrei­ben an das Bre­mer Ju­gend­amt weist die­se dar­auf hin, dass Ma­rie­chen „nich­ta­risch (Zi­geu­ner)“ sei und da­her „für die NSV-Ar­beit nicht in Fra­ge“ käme. Au­ßer­dem habe sie ver­sucht, mit Män­nern (ei­nem Flak­hel­fer) Kon­takt auf­zu­neh­men. Ein un­ver­hoh­le­ner Hin­weis auf dro­hen­de „Ras­sen­schan­de“. Sin­ti und Roma war es zu die­sem Zeit­punkt be­reits ver­bo­ten, Sex mit so ge­nann­ten „Ari­ern“ zu ha­ben.
Das Ju­gend­amt re­agier­te so­fort. Es über­wies Ma­rie­chen ins Marthasheim, eine Ju­gend­für­sor­ge­ein­rich­tung für Mäd­chen in der Os­ter­stra­ße in Bre­men-Neu­stadt. Zur Ar­beit ging Ma­rie­chen in die nahe ge­le­ge­ne Sei­fen­fa­brik Kro­n­ing. Als Ma­rie­chen auch hier an­geb­lich ver­sucht, Kon­tak­te zu Män­nern auf­zu­neh­men, wird sie in die Bre­mer Ner­ven­kli­nik („Psych­ia­tri­sche und Neu­ro­lo­gi­sche Kli­nik (Ner­ven­kli­nik) der Städ­ti­schen Kran­ken­an­stal­ten in Bre­men“, Os­ter­hol­zer Land­str. 51) zwangs­ein­ge­wie­sen. Die Be­grün­dung: „der Zi­geu­ner­misch­ling Ma­rie­chen Franz [ist] in so ho­hem Maße trieb­haft […], dass er sei­ne Um­ge­bung ge­fähr­det.“

Zu die­sem Zeit­punkt ver­such­te ihre Mut­ter er­neut, ihre Toch­ter zu sich zu ho­len, aber das Ju­gend­amt lehn­te dies ab. Statt­des­sen wur­de ein Erb­ge­sund­heits­ge­richts­ver­fah­ren ge­gen Ma­rie­chen mit dem Ziel ein­ge­lei­tet, sie zu ste­ri­li­sie­ren. Laut des Amts­arz­tes im Haupt­ge­sund­heits­amt Dr. Ro­gal dro­he „un­er­wünsch­ter Nach­wuchs“. Und er un­ter­strich, dass „[…] die Aus­schei­dung aus der deut­schen Volks­ge­mein­schaft auf die eine oder an­de­re Wei­se [drin­gend er­for­der­lich]“ sei. Au­ßer­dem leg­te der Amts­arzt fest, dass eine „Pfle­ger­be­stel­lung […] nicht er­for­der­lich“ sei, „da die Erb­kran­ke ihre Be­lan­ge selbst wahr­nah­men kann.“ Zu die­sem Zeit­punkt war Ma­rie­chen 15 Jah­re alt. Den­noch muss­te sie al­lei­ne ohne Un­ter­stüt­zung z.B. ei­nes Rechts­an­walts oder sons­ti­gen Bei­stands das Ver­fah­ren durch­ste­hen. Auf die­se Wei­se schutz­los ge­macht wur­de die Zwangs­ste­ri­li­sa­ti­on der Min­der­jäh­ri­gen am 6. Au­gust 1943 be­schlos­sen und am 4. No­vem­ber 1943 in der Bre­mer Frau­en­kli­nik durch­ge­führt.

Da­mit war die Lei­dens­ge­schich­te der mitt­ler­wei­le 16-jäh­ri­gen je­doch nicht be­en­det. Am 1. März 1944 wur­de Ma­rie­chen auf Ver­an­las­sung des Bre­mer Ju­gend­am­tes in das Be­wah­rungs­heim Ham­burg-Farm­sen ver­legt. Der Grund für die­se über­ra­schen­de Ver­le­gung dürf­te eine be­vor­ste­hen­de De­por­ta­ti­on in das „Zi­geu­ner­fa­mi­li­en­la­ger“ Ausch­witz-Bir­ken­au ge­we­sen sein, denn am 18. April 1944 ver­ließ ein De­por­ta­ti­ons­zug Ham­burg.

Als Ma­rie­chen am 21. April 1944 das La­ger er­reich­te, wa­ren ihre Mut­ter und ihr Le­bens­part­ner so­wie ihr jüngs­ter Bru­der Wil­li be­reits in Ausch­witz er­mor­det wor­den: Ihre Mut­ter starb am 13. Au­gust 1943, ihre Brü­der Wil­li am 6. Sep­tem­ber 1943 und Wal­ter († 1943) und der Va­ter star­ben am 4. Fe­bru­ar 1944. Auch die mitt­ler­wei­le in Ham­burg, in der Ol­ga­stra­ße 4, woh­nen­den Groß­el­tern von Ma­rie­chen, Jo­hann und Gre­te, geb. Stein­bach, Franz wur­den in Ausch­witz er­mor­det. Am 24. Mai 1944 wur­de Ma­rie­chen in das Frau­en­kon­zen­tra­ti­ons­la­ger (FKL) Ra­vens­brück über­führt. Dort starb sie am 25. Sep­tem­ber 1944, an­geb­lich an Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se.

Für ihre El­tern und ih­ren jüngs­ten Bru­der Wil­li wur­den im Juli 2007 STOL­PER­STEI­NE in Köln, Gro­ßer Grie­chen­markt 37, ver­legt. Für Ma­rie­chen liegt seit Sep­tem­ber 2008 in der Os­ter­stra­ße 20, Bre­men-Neu­stadt, ein STOL­PER­STEIN. Ihr Name wird des Wei­te­ren auf dem Na­mens­denk­mal Loh­se-Park am ehe­ma­li­gen Han­no­ver­scher Bahn­hof in Ham­burg nach­ge­tra­gen wer­den

Autor: Dr. Hans Hes­se

Literatur:
En­gelb­racht, Ger­da, „Der töd­li­che Schat­ten der Psych­ia­trie. Die Bre­mer Ner­ven­kli­nik 1933–1945“, Bre­men 1996, S. 50–54.
Dies., „Denn bin ich un­ter das Ju­genamt ge­kom­men.“ Bre­mer Ju­gend­für­sor­ge und Heim­er­zie­hung 1933–1945, Bre­men 2018, S. 43–47.
Dies., Ma­ria Franz, in: Pe­ter Christof­fer­sen, Bar­ba­ra Johr (Hg.), Stol­per­stei­ne in Bre­men. Bio­gra­fi­sche Spu­ren­su­che. Neu­stadt, Bre­men 2020, S. 91–94.
Hes­se, Hans, „[…] die Aus­schei­dung aus der Volks­ge­mein­schaft auf die eine oder an­de­re Wei­se […]“ – Die Ge­schich­te der Fa­mi­lie Ma­ria Franz, in: Hes­se, Hans, „Ich bit­te, die ver­ant­wort­li­chen Per­so­nen für ihre un­mensch­li­chen bar­ba­ri­schen Ta­ten zur Re­chen­schaft zu zie­hen“ – Die De­por­ta­ti­on der Sin­ti und Roma am 8. März 1943 aus Nord­west­deutsch­land, Bre­men 2022, S. 45–50.
Ni­tsch­ke, As­mus, „Die ‚Erb­po­li­zei‘ im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus. Zur All­tags­ge­schich­te der Ge­sund­heits­äm­ter im Drit­ten Reich. Das Bei­spiel Bre­men“, Op­la­den/​Wies­ba­den 1999, S. 242–247.

Online: En­gelb­racht, Ger­da, Ma­rie Franz (http://www.stolpersteine-bremen.de/detail.php?id=353)

Quellen:
AKBO (Ar­chiv Kli­ni­kum Bre­men Ost) Nr. 524/​6, Ma­rie­chen Franz.
Lan­des­ar­chiv NRW, Ab­tei­lung Rhein­land, BR 2034.
Staats­ar­chiv Bre­men 4, 130/​2 – XIII Nr. 16/​1943, Franz, Ma­rie­chen, geb. 21.9.1927.

Veröffentlicht am und aktualisiert am 28. April 2023

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